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Diskussion:Dachloser Dialekt
Aus dem Mailwechsel zwischen Christa Schneider <christa.schneider@csls.unibe.ch> (kursiv gesetzt) und Wolfgang Beywl im November 2018 Betreff: RESÜMEE Hattie 250+ non-standard dialect use - dachloser Dialekt
Liebe Frau Schneider
Ich würde nun gegenüber meiner vorherigen Tendenz an «Dachloser Dialekt» festhalten, allerdings verbunden mit ausführlichen Kommentaren:
Dachloser Dialekt mit Ihren Worten definiert: «wo die Standardsprache zwar irgendwie über den Dialekten schwebt, die Dialekte aber von der Standardsprache wenig bis gar nicht beeinflusst werden und auch nicht von dieser abhängen» —> Diese Definition ist nur für die Situation in der Schweiz gültig. In DE und AT ist die Standardsprache stark und bildet ein Dach für die Dialekte, welche von diesem abhängen.
Für die USA (aber nicht für alle englischsprachigen Länder) ist der in Hatties 250+ Liste festgehaltene Befund eines leistungsbeeinträchtigenden Effekts des dachlosen Dialekts relevant, insofern sich z. B. die jamaikanisch-kreolische Sprache mit der breiten Einwanderung auch in Kontinental-USA in grossen Sprachgruppen erhalten hat. —> perfekt! Es gibt sogar verschiedene renommierte Studien zur Benachteiligung von englischen Ethnolektsprecher*innen. Sehr oft haben diese in schlechtere Chancen auf gute Bildung und einen guten Job.
Gatlin/Wanzek (2015): Dialects of American English that encompass features that are different from standard or Mainstream American English (MAE) are generally referred to asNonmainstream American English (NMAE). Multiple language varieties have been recognized as dialects or variations of American English, including African American English (AAE), Appalachian English, Hawaiian Creole English, Latino English, Southern American English (SoAE), and Caribbean English Creoles
In Deutschland (und Österreich?) spielen dachlose Dialekte inzwischen eine ‘verschwindende’ Rolle; an ihre Stelle treten die Regionalsprachen («Ausgleichsformen zwischen Basisdialekt und Standardsprache») – damit sind die Ergebnisse aus den USA nicht auf DE (AT) übertragbar. —> Das gilt auch für Österreich. Allerdings ist es so, dass es in DE und AT sehr wenige dachlose Dialekte gibt, die Standardsprache ist sehr stark. Ein Beweis dafür ist die Entstehung der Regionalsprachen, da sich Dialektsprecher*innen immer stärker an der Standardsprache (also am Dach) und nicht mehr am Dialekt selbst orientieren. So entstehen sprachliche Mischformen zwischen Dialekt und Standard, eben die Regionalsprachen.
In der Schweiz sind die dachlosen Dialekte stabil, jedoch im Kontext der schulischen Bildung nicht verpönt, in den unteren Klassen (z. B. schulischer Kindergarten) sogar bisweilen gegenüber der deutsch(schweizerischen) Standardsprache/Schriftsprache offiziell privilegier. —> genau. Hier ist die Schweiz so unterschiedlich von den anderen deutschsprachigen Ländern, weil die Dialekte einen ganz anderen Status haben.
Für Deutschland und Österreich ist der Befund aus den USA, einer negativen Beeinflussung von Schulleistungen bei dachlos Dialektsprechenden aus den USA nicht relevant, da diese Sprechergruppe, besonders im Schulalter, im Verschwinden begriffen ist. —> ja, das stimmt. Ich bin im Moment in Hessen und da gibt es praktisch keine Dialektsprecher*innen mehr. Das gilt natürlich auch für viele andere Bundesländer.
Für die Schweiz ist der Befund aus den USA wegen der völlig anderen schulsprach-kulturellen (normativen) Rahmung nicht übertragbar. Es dürfen hier ausschliesslich in Schweizerischen Kontext erstellte Studien herangezogen werden. —> ja, und solche Studien gibt es auch bereits, sonst wäre die Debatte um Standarddeutsch oder Dialekt im Kindergarten wahrscheinlich schon lange nicht mehr aktuell.
Wolfgang Beywl
Von: christa.schneider@csls.unibe.ch <christa.schneider@csls.unibe.ch>
Gesendet: Mittwoch, 24. Oktober 2018 16:47
An: Beywl Wolfgang <wolfgang.beywl@fhnw.ch>
Betreff: Re: WG: WG: NACHFRAGE : non-standard dialect use - dachloser Dialekt
Lieber Herr Beywl,
John Hattie bezieht seine Aussage (einer der Faktoren) auf seine Sprachumgebung, also auf die anglophone Welt, wo auch die Definition, die Sie Dave Britain in einer Mail geschickt haben, wirklich gut hinpasst. Das Problem ist, dass die deutsche Sprachsituation an sich, egal ob in der Schweiz oder in Deutschland, ganz anders ist. Hier wird, je nach Sprachsituation, mehr oder weniger Dialekt gesprochen und manchmal sind diese Situationen „dachlos“, aber eben nicht immer. Dachlose Dialekte hätten wir beispielsweise in der Schweiz, wo die Standardsprache zwar irgendwie über den Dialekten schwebt, die Dialekte aber von der Standardsprache wenig bis gar nicht beeinflusst werden und auch nicht von dieser abhängen. Dass das wirklich so ist und dass sich die Situation in der Schweiz deshalb grundlegend von den Situationen in Deutschland und in Österreich unterscheidet, zeigt die Tatsache, dass sich in der Schweiz keine Regionalsprachen ausbilden. Regionalsprachen sind Ausgleichsformen zwischen Basisdialekt und Standardsprache, sie sind in DE und AUT ganz normale Erscheinungen. In DE und AUT gibt es dann entsprechend eben keine dachlosen Dialekte, da diese stark mit und von der Standardsprache abhängen und Ausgleichsformen bilden.
Wenn ich mich nicht täusche, ist eine Effektstärke von –0.29 ein nicht gerade berauschend positiver Wert, aber auch noch kein absolut negativer. Wenn ich versuche zu interpretieren, was Hattie damit ansprechen will, ist wahrscheinlich das nicht-muttersprachliche Beherrschen einer Standardvarietät gemeint, liege ich richtig? Falls das so ist, müsste man dann wieder differenzieren: In DE und AUT kann starker Dialektgebrauch durchaus einen negativen Einfluss auf das Lernverhalten haben, weil die SuS möglicherweise gehänselt werden und mehr Aufwand beim korrekten Erlernen/Anwenden der Standardsprache/Grammatik betreiben müssen. In der Schweiz verhält es sich ein bisschen anders: SuS müssen zwar die „korrekte“ Anwendung der Standardsprache erlernen, worauf sich Dialekt manchmal schon nachteilig auswirken kann, aber die gemachten Fehler werden anders gewertet, da Standarddeutsch mindestens beim schriftlichen Erwerb den Status einer Fremdsprache bekommt, wo Fehler eben normal sind und auch eher verzeiht werden. Dazu kommt, dass SuS in der Schweiz immer Dialekt sprechen und das keinen Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl der SuS in Klassen/Schulen hat. Ich vermute, dass die Effektstärke im Fall der Schweiz bedeutend positiver sein müsste, vielleicht sogar im grünen Bereich.
Ich gehe davon aus, dass Ihre Publikation auch in DE und AUT vertrieben werden soll und da mache ich Ihnen den folgenden Vorschlag: Ich würde den Faktor als „Verwendung von standardfernen Variationen als Muttersprache“ oder „Stark dialektale Muttersprache" bezeichnen und für die Situation in der Schweiz eine Fussnote einfügen. Bei der Fussnote müsste dann nur stehen, dass der Faktor in der Schweiz vermutlich positiver ausfällt, das das Sprechen/Verwenden eines Dialekts hier unproblematisch und ohne Wertung stattfindet.
Herzliche Grüsse aus Marburg
Christa Schneider